5. September 1918 Feldpostbrief von Kaspar Kamm
 
 
 
 
 
 
 
 
 
         
    Treuenbrietzen, den 5. September 1918

Hochehrwürdiger Herr Pfarrer!

Habe gestern Abend von Ihnen 2 Briefe vom 20. Juli und 30. August zu meiner großen Freude erhalten. Nachdem ich fast 8 Wochen jeder Nachricht von der Heimat entbehren mußte, ist es für mich desto größere Freude, die Briefe jetzt doppelt zu erhalten.

Was meine Ruhrkrankheit anbelangt, so ist dieselbe Gott sei Dank soweit gehoben, jedoch werde ich jetzt auf meine Nerven behandelt. Es ist das ein Leiden, das ich schon lange an mir habe, das früher die Ärzte als von H u Haus aus bezeichneten und das der hiesige Arzt als „Allgemeine Nervenschwäche“ konstatierte. Als ich vorige Woche von meiner Frau ein Telegramm erhielt, um der Beerdigung der Marg. Zoll beizuwohnen und dieses dem Arzt vorlegte, erklärte er mir gegenüber, daß er mich als geheilt nicht entlassen kann, ich müßte also nach der Beerdigung wieder nach Treuenbrietzen zurückkehren und die Fahrtkosten – die sich ziemlich hoch belaufen hätten, da ich hätte Schnellzug benützen müssen – selbst tragen müssen. Ich bin deshalb davon abgestanden. Weiter sagte er mir, daß ich zur Beobachtung in eine Nervenheilanstalt nach Berlin müßte, und er riet mir ein Gesuch machen zu lassen, damit ich in ein Heimatlazarett verlegt würde, was ich auch tat, und so werde ich voraussichtlich in den nächsten Tagen nach Nürnberg verlegt werden. Ich hoffe von dort aus Urlaub zu bekommen und freue mich schon darauf, mit den Meinigen wieder in Verbindung zu kommen.

Leider habe ich Ihrem Briefe entnommen, daß nun auch Kirchfarrnbach zweier Glocken beraubt werden soll. Es ist wohl eines der schönsten Geläute in der ganzen Umgegend und ich selbst ergötze mich jedes Mal an seinem harmonischen Klang. Die Folgen des schrecklichen Krieges erstrecken sich immer weiter und wer weiß, was wir noch durchzumachen haben.

Ich muß leider gestehen, daß die Stimmung der Soldaten an der Front eine immer schlechtere wird. Ich redete in den Lazaretten mit Bayern, Württembergern, Sachsen und Preußen, die von verschiedenen Fronten herkamen, und alle sind derselben Meinung, sie glauben an keinen Endsiege Deutschlands mehr.

Während der Feind immer wieder frische Truppen in den Kampf hineinwirft, sagen sie, sind Deutschlands Reserven bereits verbraucht und das entmutigt sie. Der Feind zieht den Krieg in die Länge und das ist unser Untergang. Möge uns Gott vor solchem Ausgang des Krieges bewahren. Freilich, wenn ich über das nachdenke, wie das Land der Franzosen so schrecklich verwüstet ist, wie es Jahrzehnte lang brauchen wird, es wieder in Stand zu setzen, so muß ich sagen, der Franzmann kann uns nie nimmer mehr gut gesinnt werden. Die Lage selbst zu beschreiben ist unmöglich, es kann’s nur der fassen der’s mit leiblichen Augen sieht.

Die Arbeit, die ich verrichten mußte, war mir oft widerwärtig, indem ich oft die schönsten Bäume absägen mußte, Bäume, deren Schönheit man in Deutschland kaum sieht, nur der Äste wegen, die zu Straßenbauten in sumpfiger Gegend verwendet wurden.

Aber es ist eben Krieg und da gibt’s keine Schonung.

Ferner schreiben Sie mir, daß Hirschneuses jüngst von einem schweren Brandunglück heimgesucht wurde. Die Betreffenden sind sehr zu bedauern und ich selbst kann ihren Schmerz mitfühlen, da ich ebenfalls schon von diesem Unglück betroffen wurde. Aber angesichts des Krieges ist das nur ein kleiner Bruchstrich, der sich leicht ausbessern läßt. –

Weiter schreiben Sie in Ihrem werten Briefe, daß ich werde manche Schön- und Sehenswürdigkeiten in Feindes- wie im Heimatland gesehen habe und so will ich Ihnen nur meine Herfahrt von Maubeuge bis hieher nach Treuenbrietzen beschreiben, denn alles zu beschreiben brächte ich ein ganzes Buch voll.

Am 21. August abends 7 Uhr fuhren wir in Maubeuge ab. Das Wetter war sehr schön, der Mond stark im Zunehmen und wir fürchteten, des Nachts von Fliegern heimgesucht zu werden, was sich jedoch nicht bestätigte. Beim Mondschein durchfuhren wir Belgien, das durch seine Bodenbeschaffenheit höchst fruchtbar ist, aber auch die Industrie steht auf höchster Blüte, natürlich jetzt unter deutschem Betrieb. Hie und da sieht man auch große Bergwerke. Auffallend waren mir hier die großen Viehherden, die des Tags wie nachts auf der Weide sind. Ich glaubte, da es nachts ziemlich kühl war, die Rinder müßten alle krank werden.

Gegen Morgen fuhren wir ziemlich der Grenze zu, die Landschaft wurde gebirgig, die Bahn mußte sich durch Tunnells und Schluchten sozusagen hindurchwinden und auch, als wir über die Grenze kamen, ging dasselbe Bild weiter. Aber welche Lust sich in eines jeden Brust rührte als es hieß, wir sind jetzt in Deutschlands Fluren, das kann ich Ihnen nicht beschreiben.

Wir wurden öfter verpflegt, aber die Verpflegung … ließ während der Fahrt viel zu wünschen übrig, besonders mußten wir, da es sehr heiß war, viel Durst leiden. Die Fahrt ging weiter, keiner hatte eine Karte, keiner wußte wohin. Gegen Abend kamen wir wieder in schönere Gegenden – es mochte das Argebiet gewesen sein, ich las in den Stationen die Namen Steurmar(?), Arnweiler(?) u. s. w. eine sehr schöne Gegend, große Obstzüchtungen und an den Abhängen Wein. Wir hofften, hier in ein Lazarett zu kommen, aber wir sollten eines anderen belehrt werden. Der Zug fuhr fast durch alle Stationen durch, ohne zu halten. Abends, es mochte 10 Uhr gewesen sein, erreichten wir Koblenz. Nie werde ich den Anblick vergessen, den ich hier vernahm. Der Vollmond war bereits aufgegangen, die Wellen des Rheins glitzerten wie von Gold, ein Dampfer am andern, ganz neue, von schöner Bauart, elektrisch beleuchtet. So viele Fahrzeuge ich in Frankreich zu sehen bekam, den deutschen gegenüber müssen sie zurücktreten, wie überhaupt jegliche Bauart in Frankreich, Deutschland gegenüber im Rückstand ist.

Die Fahrt ging weiter, ich hoffte, wir würden den Rhein entlang fahren meiner Heimat zu, aber es kam anders. Ich bemerkte bald, daß wir auf eine Seitenlinie abbiegen, wir kamen ins Hessische, über Gießen, Marburg und erreichten nachmittags 3 Uhr Kassel. Wir hofften jetzt am Ziel zu sein, aber es hieß Halle wäre es, über 100 km von Kassel entfernt. Ich dachte bis Abend werden wir dasselbe erreichen, um wenigstens die dritte Nacht schlafen zu können. Aber auch das sollte nicht erfüllt werden. Wohl erreichten wir abends Halle a/S. aber der Zug fuhr nach wenig Aufenthalt weiter, die Kameraden hatten sämtlichen Fußboden belegt und schliefen und so entschloß ich mich, auch die dritte Nacht, wenn auch bisweilen stark vom Schlaf geplagt, noch am Fenster zu sitzen, die Natur betrachtend.

Wir durchfuhren Eisleben und erreichten nachts 1 Uhr Wittenberg. Mir fiel Luthers Leben und Wirken ein. Um 1/2 3 Uhr waren wir in Jüterbog, wo der Zug hielt. 3 Wagen wurden ausgeladen unter denen auch ich mich befand. Die anderen fuhren weiter, wer weiß wohin. Wir wurden dann in den Wartesaal kommandiert, wo wir uns eine Tasse Kaffee kauften. Jetzt übermannte mich der Schlaf. Der Länge nach, den Kopf aufs Gepäck zurückgelegt, legte ich mich auf den Fußboden hin und schlief wie zu Hause im Federbett.

Aber nur kurze Zeit, um 5 Uhr wurde ich schon wieder geweckt, wir mußten, zu meinem Bedauern, wieder einsteigen. Der Zug fuhr auf einer andern Linie, fast entgegengesetzt, wie wir herfuhren, bis hieher zur Anstalt Treuenbrietzen, wo wir um 7 Uhr ankamen. Wir bekamen Kaffee und suchten natürlich gleich unser Lager auf. Aber auch hier gönnte ich mir nicht lange Ruhe. Ich stand auf, um an meine Familie zu schreiben, ich wollte unbedingt Nachricht von zu Hause, die ich so lange vermißte. Die Verpflegung ist hier, wenn auch etwas knapp, sehr gut und es hat sich nicht bestätigt, daß, falls wir in ein preußisches Lazarett kommen sollten, es in dieser Hinsicht, sehr schlecht sei. Die Anstalt besteht aus der Alten 1913 erbaut und der Neuen 1915 erbaut, zwecks Erziehungsanstalt und wird jetzt im Kriege als Lazarett verwendet.

In der alten Anstalt, wo ich bin, sind 101 Mann, werden aber alle Tage weniger, die Neue dagegen, die ungefähr 200 m von der Alten entfernt ist, beherbergt 500 Mann. Dort sind meist Lungenkranke. Ein großer Saal, der Speisesaal genannt, wo eben gegessen wird, dient auch als Betsaal. Hier werden jeden Dienstagabend und auch sonntags Bet- und Gottesdienste abgehalten von einem Pfarrer in Treuenbrietzen. Einmal in der Woche auch für Katholiken. Auffällig war mir, daß hier unsere Gesangbuchlieder in anderer Melodie gesungen werden als bei uns in Bayern. Zum ersten Mal wohnte ich hier auch einer katholischen Andacht bei. Auch zu Vorträgen wird der Saal verwendet. Eine Glocke, die oben hängt, verkündet den Beginn jeder Veranstaltung. Auch zum Essen ruft sie und mit Freuden hören wir ihren Schlag. Die Anstalt selbst betreibt nebenbei Landwirtschaft und bringt ihre Nahrungsmittel meist selbst auf. Sie hat 7 Pferde, 14 Kühe, 9 Stück Jungrinder, 16 Schweine, eine größere Anzahl Kaninchen und nebenbei große Gärten zum Gemüse. Jedoch muß ich nebenbei bemerken, daß wenn ich zu Hause meine Landwirtschaft so bewirtschaften täte, wie hier, ich in 2 Jahren fertig wäre. Ich selbst habe gestern helf(en) gemäht, und um Einblick haben zu können und der Inspektor wollte durchaus ich sollte weiter helfen, da ich überall fachkundig bin, aber ich sagte ihm, ich will durchaus kein Geld verdienen, sondern wie gewirtschaftet wird, wollte ich wissen. Wir hatten eine längere Unterredung darüber. Ich denke nächsten Dienstag hier wegzukommen, so oft der Arzt früh an mir vorbeigeht, sagt er: „Kamm wird verlegt“ und untersucht mich nicht weiter. Ich habe also Hoffnung, bald in die Nähe der Heimat zu kommen und freue mich von Herzen darauf. Kurze Zeit war ich im Feld, aber gelernt hab ich viel.

Ich habe mir gelobt, falls ich gesund das Ende des Krieges erleben sollte, nur in Frieden und Eintracht zu leben, und ich werde alles meiden, was mir den häuslichen Frieden stören sollte, denn dieser Reichtum ist mir lieber als Geld und Ansehen. Ich habe es meiner Frau schon oft geschrieben, sie möge über nichts murren, was auch Widerwärtiges kommen möge, sie kann in Ruhe und Frieden schlafen und angesichts des Krieges ist das genug. Ja alle Unfriedensstifter möchte ich an die Front wünschen, hier würden sie lernen und das Maul halten.

Doch genug jetzt damit, ich will keines Menschen Richter sein. Ich habe etwas klein geschrieben und Sie werden vielleicht längere Zeit brauchen, bis Sie ihn lesen, doch werden Sie, glaube ich, nicht so lang brauchen, als ich mit den Ihrigen, ich brauchte eine volle Stunde, ich hab ja Zeit dazu. Nun seien Sie zum Schlusse herzlich gegrüßt nebst Ihrer werden Familie, auch Lehrer Mich. Krauß.

In vollster Hochachtung
Ihr ergebener
Kamm Kaspar

 
   
         
 
     
 
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