Erinnerungen - Kirchfarrnbach
(1. Teil)
Aus "Veränderung und Beständigkeit" Hermann Dietzfelbinger, Claudius Verlag München 1985
 
         
   

Schon drei Monate nach meiner Geburt zogen die Eltern nach Kirchfarrnbach, einem Pfarrort in der Nähe von Fürth i. B., im Kerngebiet Mittelfrankens, zwischen den Flüssen Zenn und Bibert, am Westhang des sich von Cadolzburg herüberziehenden, reich bewaldeten Dillenbergs gelegen. Die Kirchengemeinde besteht aus einer Reihe von kleineren Orten. Neben der Hauptkirche gibt es auch eine Filialkirche in dem etwa 4 km entfernten Hirschneuses. Dort hatte der Vater alle vier Wochen Gottesdienst zu halten. Weil er nach Hirschneuses mit einer Pferdekutsche gefahren wurde, war es für uns Kinder oft ein besonderes Vergnügen, ihm am Nachmittag auf seiner Rückfahrt entgegenzugehen und in der Kutsche mit nach Hause fahren zu dürfen. In dem schönen Pfarrhaus, einem fränkischen Fachwerkbau, verlebten wir in dem wachsenden Geschwisterkreis - vor mir ein älterer Bruder, der bald starb, und eine ältere Schwester, nach mir sechs jüngere Geschwister - eine nicht unbeschwerte, aber reiche und frohe Jugendzeit. Der einfache, sparsame Lebensstil erschien uns wie selbstverständlich und wurde auch von uns übernommen. Es war schon eine ganz besondere Zugabe, wenn die Eltern - ein- oder zweimal im Jahr - nach Fürth bzw. Nürnberg zum Einkaufen fuhren und einige von uns Kindern mitnahmen. Da musste man schon früh um halb vier Uhr aufstehen, um rechtzeitig nach einer Stunde Fußmarsch zur Lokalbahnstation Wilhermsdorf zu kommen. In Fürth fuhr der Vater regelmäßig mit der etwas altersschwach gewordenen "Ludwigs-Eisenbahn", der ältesten Eisenbahn Deutschlands, nach Nürnberg; dort wurden wir Kinder meist im "Panorama", einer Guckkasten-Einrichtung mit schönen Landschaftsbildern abgesetzt, und die Eltern konnten ihre Besorgungen machen. Ob wir, außer gelegentlichen Besuchen des Tiergartens, noch viele tiefere Eindrücke mitbekamen, weiß ich nicht: einmal hatte mich, meinen Erzählungen zufolge, anscheinend vor allem ein Schaufenster gefesselt mit "Zöpfen, an denen keine Frauen dran waren".

Das Leben in der Familie war durch eine einfache christliche Hausordnung mit Morgen-, Tisch- und Abendgebet geordnet. Von sonstigen Erziehungsgrundsätzen der Eltern weiß ich wenig zu sagen. Wir wussten, dass sie uns lieb hatten, auch wenn sie einmal streng gegen eines der Kinder sein mussten. Im übrigen war ihnen anzumerken, wie sie jedem einzelnen der Heranwachsenden gerecht werden wollten. Kam es von da her, dass wir natürlich oft Auseinandersetzungen miteinander hatten, aber verhältnismäßig wenig ernsthaft miteinander stritten? Zu den Mahlzeiten mussten wir pünktlich da sein, vor allem wenn der Vater rief. Und wenn es abends dunkel wurde, brachen wir auch die schönsten Spiele mit den Kameraden auf der Dorfstraße ab; wir durften das abendliche Gebetläuten doch nicht versäumen, bei dem die Mutter betete: „Lieber Mensch, was soll's bedeuten, dieses späte Glockenläuten? Es bedeutet aber mal deines Lebens Ziel und Zahl." Die Mutter konnte ja, wenn das Abendessen vorüber war, auch so wunderbar erzählen, dass auch die Größeren sich keine ihrer Geschichten entgehen ließen. Auch wusste sie jede kleine Gelegenheit wie etwa einen Geburtstag zu einem Familienfest auszugestalten und mit ihrer großen dichterischen Gabe unvergesslich zu beleben. Und das Weihnachtsfest wurde nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für uns Kinder liebevoll und fröhlich mit Singen von Weihnachtsliedern, mit Gaben und Geschenken ausgestaltet.

Unsere Jugendjahre wurden besonders durch die Nachbarschaft mit den Großeltern bereichert, die nur eine gute Stunde entfernt in Dietenhofen lebten. Dort wirkte der ehrwürdige Großvater Christian Nicol als Pfarrer, und seine Frau Bertha, geb. Kelber, hielt ein für die Enkelkinder sowie für zahlreiche Verwandte und Bekannte allezeit offenes Haus. In den Jahren von 1908 bis 1925 ist wohl selten eine Woche vergangen, in der nicht irgendein Besuch zwischen den beiden Familien hin- und herwechselte, in freudevollen und in leidbeschwerten Tagen. Wenn der Großvater mit dem Fahrrad von Dietenhofen herüberkam, war es für uns Enkel eine Ehre, ihm von der nahe gelegenen Farrnbach-Quelle am Waldesrand frisches Trinkwasser zu holen. Dies sei das beste Wasser in der ganzen Gegend, meinte er. Besser war es jedenfalls als das Wasser aus unserem Pumpbrunnen unterhalb des Pfarrhauses, das man mit Eimern und Bütten in die Küche schleppen musste und in dem nicht selten Schnecken und andere kleine Tiere zu finden waren. Vor allem wurde jedes Fest in der ausgedehnten Familie als Gelegenheit zu größeren Treffen benutzt, und die schönen gemeinsamen Stunden, in denen der Vater mit seiner guten Singstimme Balladen von Carl Loewe wie den "Erlkönig" oder "Archibald Douglas" sang und die verschiedenen Onkel Klavier und Violine spielten, bildeten Höhepunkte auch im Leben von uns Kindern.

Der inzwischen längst zugewachsene Fußweg von Kirchfarrnbach nach Dietenhofen, der wahrscheinlich nur von uns benützt wurde, die vier Wäldchen, durch die er führte, samt dem Weg zwischen den Weihern mit ihren Seerosen stehen ganz deutlich noch vor mir. Vor allem war es die Wegstrecke über die Heide mit den vielen Wacholderbüschen; am Tag sahen sie gar nicht gefährlich aus und konnten nur ein wenig stechen, aber wenn es dämmrig und dunkel wurde, erschienen die Büsche den Kindern wie gespenstische, räuberische Gestalten, und wir schlossen uns enger an die Mutter an, die mit ihrem tapferen Gesang uns und vielleicht auch sich selbst Mut zusprach. An die Heide mit den Wacholderbüschen habe ich später oft gedacht, wenn es um die Erklärung der großen Christusbotschaft ging: „Gott hat die Gewalten und Herrschaften ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus" (Kol 2,15).

   
   
- 1 -
   
 
zurück zum Verzeichnis "Heimatgeschichtliches Lesebuch"