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Auch
wir Kinder erfuhren im Krieg und in der vielfachen Begegnung
mit dem Sterben: Diese Welt ist voll von Mächten
und Gewalten, die uns Furcht einflößen können.
Aber wenn Jesus Christus unsern Tag erhellt, dann ist
das Unheimliche weggenommen. Unheil und Tod, Schmerzen
und Krankheit sind nicht verschwunden, aber sie sind
ihres unheimlichen Machtcharakters entkleidet und sind
auch nur Kreaturen Gottes, wie diese stacheligen Wacholderbüsche.
Pfarrhaus
und Kirche, zwischen denen der schöne Pfarrgarten
mit der Holzlege und dem alten Pferdestall lag, bildeten
den natürlichen Mittelpunkt des Dorfes. Dazu kam
das auf der anderen Straßenseite gegenüber
der Kirche liegende Schulhaus. Für uns war dies
alles eine selbstverständliche, überschaubare
Lebenseinheit, in der wir uns zu Hause fühlten.
Auch der alte Friedhof gehörte dazu, auf dem das
Grab unseres ältesten, 1910 im Alter von sechs
Jahren verstorbenen Bruders Ludwig lag. In der Kirche
wurden wir heimisch, längst ehe wir verstehen konnten,
was unser Vater, der Pfarrer, am Sonntag in der Predigt
sagte. Die Lieder, die Gebete, die Verbundenheit mit
den Menschen, die da kamen, all dies war doch auch Kirche!
Das Läuten der Glocken, an dem ich, sobald ich
nur ein Glockenseil halten konnte, mich beteiligte,
das Anstecken der Lieder für den Gottesdienst,
und das Blasbalgtreten an der Orgel waren ebenso ein
Teil unseres Lebens wie unsere Teilnahme an Trauungen,
bei denen der Bräutigam Kleingeld unter die Jugend
werfen musste, und an Beerdigungen, wo wir die damals
üblichen gefühlvollen "Arien" sangen
wie: "Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?"
oder: "Lasst mich gehn, dass ich Jesum möge
sehn! " Zugegeben, wir benutzten Friedhof und Kirche
an Werktagen und am Sonntag vor dem Gottesdienst auch
zum Versteckspielen; aber es gehörte eben alles
zusammen, das Spiel und der Ernst, der Gottesdienst
in der Kirche und das Leben um die Kirche herum.
In
dieses gemeinsame Leben war auch das Schulhaus einbezogen.
Der Vater, in den Jahren bis 1918 noch königlich-bayerischer
Lokalschulinspektor, bemühte sich ebenso wie die
Mutter um ein freundschaftlich-nachbarliches Verhältnis
zu den Lehrern. In der Zeit des Krieges war der Lehrer
eingezogen. Seine Frau, die allein im Schulhaus saß,
erhielt die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Unsere Mutter
war Tag für Tag bei ihr, um ihr beizustehen.
Auch
mit der Schule selbst verbinden mich die schönsten
Jugenderinnerungen. Es war eine einklassige Schule,
wo die Jahrgänge von eins bis sieben in einem Raum
unterrichtet wurden, eine Zwergschule also, wie man
heute sagt. Natürlich genügte sie heutigen
Ansprüchen kaum. Aber was hatte sie doch auch für
Vorzüge! Gewiss, das "Realienbuch" enthielt
nur die wichtigsten Wissensstoffe für Geschichte,
Geographie und Naturkunde. Aber wir eigneten uns dies
Wesentliche auch an. Und Schönschreiben, Rechtschreiben
und Lesen lernten wir bestimmt ebenso gut wie die Jugend
heute in den vollausgebauten Schulen. Wie von selbst
erwacht in solch einer Gemeinschaft der Sinn für
gegenseitige Verantwortung, für Teamarbeit, wie
man heute sagt. Da sieht die ältere Schwester ihren
jüngeren Bruder in der ersten oder zweiten Klasse
vor sich sitzen; im Notfall darf sie ihm bei den ersten
Buchstabierübungen helfen, und wenn er eine Hausaufgabe
aufbekommt, notiert sie es und trägt die Verantwortung
mit dafür, dass die Aufgabe zu Hause auch recht
erledigt wird. Wenn der Lehrer es einigermaßen
verstand und sich dieser besonderen Unterrichtsweise
mit Liebe hingab - dies war allerdings die Voraussetzung
-, so hatte die einklassige Schule in solchen Verhältnissen
durchaus ihre Berechtigung, ja ihre Vorzüge. Vieles
von dem, was heute als pädagogisch erstrebenswert
propagiert wird an Zusammenarbeit und Sozialisation,
und nicht wenig von dem, was in der Theorie dargeboten
wird, lernte man in der ungeteilten Schule wie von selbst.
Als ich später während des Krieges für
die bayerischen Pfarrer eine Arbeitshilfe für den
Religionsunterricht an der ungeteilten Schule zu fertigen
hatte, stand als Vorbild die ungeteilte Schule vor mir,
die ich selbst besucht hatte.
Von
dieser Schule, in der man sich täglich traf, nahm
die Kameradschaft unter der Jugend ihren Ausgang. Was
für Möglichkeiten bot dafür solch ein
überschaubares Dorf, in dem einem Pfarrerbuben
fast jedes Haus offen steht! Es gab Tage, wo wir Kinder
in einem Nachbarhaus beinahe mehr Zeit verbrachten als
zu Hause, einschließlich der Mahlzeiten. Die heißen
Sommer-Nachmittage verlebten wir mit Baden, Gänsehüten
und Kaulquappenfangen an den großen Fischweihern
bei Kreben. Wir hatten viel mit Tieren zu tun; die einen
hatten wir lieb, während wir andere gedankenlos
und grausam quälen konnten. Wir kannten uns aus
mit den Haustieren, den Pferden, Kühen und Schweinen,
und empfanden es nicht als überflüssig, sondern
als wichtige Regel, wenn wir im Religionsunterricht
den Spruch lernten: „Der Gerechte erbarmt sich
seines Viehs" (Spr 12, 10). Und „wie man
sich freut in der Ernte" (Jes 9,2) erlebten wir
mit, wenn wir in dem geschäftigen, staubigen Treiben
um die Dampfdreschmaschine mithelfen durften. Auch gab
es Werkstätten und Scheunen, wo wir uns zum oft
nicht ungefährlichen Spiel herumtrieben. Man durfte
auch an Schlachtfesten teilnehmen, und im Kaufladen
der Frau Nachbarin Dietrich kannte ich mich ebenso aus
wie ihr Sohn, mein Freund Georg. Als dieser in der bösen
Grippe-Epidemie am Kriegsende 1918 im Alter von zehn
Jahren starb und ich hinüberkam, um ihn noch einmal
auf dem Totenbett zu sehen, ging es mir durch und durch,
als seine Mutter zu mir sagte: „Das Letzte, was
er gerufen hat, war dein Name!" |
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