Am
Mittwoch, 22. Dezember kam ich in die Klinik, um Ludwig
abzuholen, ich wollte mich freuen und konnte doch
nicht, denn das Wiederbringenmüssen und die Operation
lag mir schwer auf der Seele. Als ich ins Zimmer eintrat,
rief er mir entgegen: heut geh ich fort! Ich kleidete
ihn an, und dann führte ich ihn hinunter, wo
für ihn eine kleine Bescherung unter brennenden
Christbäumen bereitet war. Er sah alles an und
freute sich, aber später fragte er mich so oft
und so oft, warum denn an den Bäumen nur weiße
Lichter seien; die bunten an unserem Christbaum gefielen
ihm viel besser. Wir packten seine Sachen ein, einen
Strauß (künstlicher) Rosen trug er in der
Hand, setzten ihn in den Fahrstuhl und fuhren zum
Bahnhof, was immer das Ziel seiner Sehnsüchte
war.
Und
als wir gar in die „sanftige Eisenbahn“
einstiegen, das gefiel ihm. Sein Onkel Dietrich, der
ihn täglich in der Klinik besuchte, fuhr mit
uns. Wer das Kind mit dem frischen, rosigen, lebhaften
Gesicht sah, konnte nicht glauben, dass es todkrank
sei. Ludwig blieb keinen Moment sitzen, alles musste
er sehen, was draußen vorüber flog. In
Wilhermsdorf stand der Wagen, aber nicht, wie wir
erwartet hatten, Wilhelm und Mädi drinnen. Unterwegs
stiegen allerlei Erinnerungen in Ludwig auf, er kannte
die Mühle, wo es Truthühner gab, „in
dem Graben drin bin ich gegangen, da ist der August
in die Binsen neingelaufen“ usw. Die neu entstandenen
Telegraphenstangen bewunderte er alle einzeln. Nun
kamen wir an, wir trugen ihn hinein, wie freute sich
das Schwesterlein!
Ach,
ein paar Tage gehörte uns unser Kind wieder,
aber dann?! Wir hörten seine Stimme, sein Lachen
wieder im Hause, er schlief wieder in seinem Bettchen.
Aber er hatte Tag wie Nacht wieder viele Schmerzen.
Am 24. Dezember war er voll ungeduldiger Erwartung.
In seinem Bettlein sitzend sang er Weihnachtslieder,
am liebsten: Ihr Kinderlein kommet. Dann trug ich
ihn herein und wir stunden zum letzten Mal mit unseren
drei Kindern unterm Weihnachtsbaum.
Ehe
er noch seine Geschenke gesehen hatte, wollte er zur
Krippe und zum Baum, immer wieder trug und führte
ich ihn hin. Schon in den vorhergehenden Jahren hatte
er immer die Worte des Engels gesagt: „Hirten,
fürchtet euch nicht; siehe, ich verkünde
euch“ usw. Das tat er auch jetzt wieder. Mit
Geschenken war er reich bedacht worden, außer
seinen Sachen von der Klinik bekam er verschiedene
Spiele, den ersehnten Malkasten, eine kleine Kanone,
einen Nussknacker, den er mit ins Bett nahm, die gewünschte
„Wachspfeife“, ein Engelbilderbuch, Taschentücher,
die er nie benutzte, und eine Schürze, die er
nie mehr trug. Aber das liebste war ihm der Kaufladen,
den hatte der dann immer vor sich auf dem Bett stehen
und kaufte und verkaufte, wog und wickelte ein. Das
war sein letztes Weihnachtsfest auf Erden. –
An
den übrigen Tagen wechselten gutes und schlechtes
Befinden, der Appetit war schwach. Welch ein Gegensatz
zu früher, wo er immer ein recht großes
Stück wollte, aber „ein abrissen!“
Nur Fisch, den er stets liebte, und Kirschen schmeckten
ihm, auch Nüsse aß er sehr gern. Das unheimliche
Brechen, das vom Gehirn her kam, stellte sich auch
manchmal ein.
Am
2. Feiertag hatte er furchtbare Schmerzen, ich glaubte
sein Jammern und Schreien nicht mehr ertragen zu können.
Er sagte einmal: „Mama, ich komm fei nimmer!“
Nachmittag wurde es allmählich besser, da kamen
die Dietenhofener; seine Großmutter und die
meisten seiner Onkel, sahen ihn da zum letzten Mal
– am Abend vor seiner Abreise war mir so schwer
ums Herz, ich musste ihn ja wieder hergeben und vielleicht
für immer. Da kniete ich an seinem Bettlein und
hielt ihn fest, fest. Aber er war ganz heiter und
sagte immer: „Sei doch net so traurig! Wein
doch net! Mach doch kein so trauriges Gesicht! Jetzt
war sie vorhin noch so vergnügt und jetzt…"
Am
andern Morgen kam die schwere Reise. Zum aller-allerletzten
Mal zog ich ihn an. Er nahm Abschied von seinem Schwesterlein,
von dem lieben kleinen „Bruder“, über
den er immer so lachen musste – sie sahen ihn
nur im Sarge wieder. –