Der Dillenberg!
von Dethardt Lauter
   
         
   

Ganz nahe bei unserem Dorfe dehnte sich stundenweit dichter Wald, beginnend mit dem Dillenberg, in dem viele Felsgruppen aufragten. Oft saßen wir auf einer dieser zackigen Felsgruppen und lauschten den Erzählungen Helenens. War es eine Räuber- oder Rittergeschichte, so lernten wir das Gruseln und Fürchten und schmiegten uns auf dem Heimwege eng an sie, die uns dann wie die leibhaftige Waldfee aus dem verzauberten und verwunschenen Wald herausführte.

Helene machte schon mit zwölf Jahren Gedichte, die von uns in feierlichem Akt in einer der Felsgruppen, in einer Blechbüchse oder Glasröhre versiegelt, für die Nachwelt niedergelegt wurden.

Nie haben wir Geschwister nur einen Augenblick die gute Helene vergessen und ihr stets die große Liebe und Verehrung bewahrt, die wir ihr von klein auf gezollt haben. In unserer schönen Jugend hat sie sich ein Denkmal für alle Zeiten in unseren Herzen errichtet.

Sie ist auch nach dem Tode unserer Mutter die, ach, so früh sterben musste unser Hausmütterchen geworden.

Der Dillenberg hatte stellenweise urwaldähnlichen Charakter. Er war so dicht, dass man kaum in ihn eindringen konnte, aber stundenweit führten schmale Fußpfade durch ihn hindurch, kreuz und quer, man musste aber genaue Ortskenntnis besitzen, wollte man sich in ihm zurechtfinden. Viele Bächlein durchzogen ihn und ganz in der Nähe des Dorfes sprudelte aus einer Felsgruppe der Jungfernbrunnen, eine kristallklare, köstliche Quelle, die in ein Rohr gefasst war. Jeden Morgen mussten die älteren Geschwister von dem etwa sieben Minuten entfernten Sprungquell für Vater einen Glaskrug voll des herrlichen Wassers holen, der für Vater ein direkter Gesundbrunnen war. Wie oft sagte Vater zu uns Kinder: „Achtet dies köstliche Wasser, es kommt unberührt aus dem Felsen und ist eine köstliche Gottesgabe.“

Im Walde des Dillenberges, ein Teil dessen auch Pfarrwald war, gab es herrliche, schwellende Moosarten, darunter das schöne Korallenmoos, fast alle Farnarten, wie überhaupt eine Waldflora, die man sich nicht schöner denken kann. Auch wunderbare Bergkristalle fanden wir dort. Er war eine Fundgrube aller Waldbeeren. Unsere liebe Mutter zog mit den Mägden und uns Kindern frühmorgens hinaus in den Wald, abends kehrten wir mit Eimern Heidelbeeren oder Walderdbeeren beladen nach Hause. Der Dillenberg auf der einen und der Hirschberg auf der anderen Seite des Dorfes lieferten lieferten uns Waldbeeren und Pilze für den ganzen Winter.

Eines Tages im Hochsommer nahm Vater uns drei Buben mit auf eine Wanderung durch den Dillenberg nach dem etwa vier Stunden entfernten Kadolzburg mit seiner alten Burg. Kreuz und quer ging es auf den versteckten Waldpfaden durch den verwunschenen Wald. Vater immer voraus, wir Buben hinterdrein. Unterwegs labten wir uns an Waldbeeren, sahen ganze Rudel Rehe, beobachteten Kaninchen und Hasen. Der Vater zeigte uns alle möglichen Waldvögel, die wir noch nie so nahe beobachtet hatten.

Er lehrte uns, sie an ihrem Gezwitscher und Pfeifen erkennen und erklärte und ihre Art zu leben. Wir ergötzten uns an den possierlichen Gebaren der Eichkätzchen, hörten das Klopfen der Spechte und das Kreischen der Nusshäher. Wir hörten das Gurren der Wildtauben und versuchten uns so nahe als möglich heranzuschleichen, aber sie waren wachsam und sehr scheu. Vielleicht waren wir Buben auch zu unruhig, so dass sie stets aufflogen. Schließlich fanden wir als besonders schöne Trophäe den abgetrennten Flügel eines Nusshähers, den wohl ein Geier geschlagen hatte und steckten voll Entzücken und Stolz die schönen, blauweißen Federn an unsere Hüte. Gegen Mittag waren wir bei dem Onkel in Kadolzburg, der in einem schönen Pfarrhaus mit einem großen Garten wohnte.

Wir hatten den ganzen Nachmittag für uns und besichtigten unter Führung von ein paar Kadolzburger Jungen das alte Burgnest, aßen Berge von Kuchen zum Nachmittagskaffee und erlebten einen an neuen Eindrücken reichen unvergleichlichen Nachmittag.

Nach dem Abendessen machten wir uns auf den Heimweg. Wieder ging es durch den dichten Wald. Wir Jungen glaubten den Wald nun schon zu kennen, aber bald wurde es finster, nur das Meer der Sterne leuchtete über dem Meer der Gipfel. Bald wurde es schon so dunkel, dass wir Mühe hatten dem Vater zu folgen. Vater gab Konrad dem Ältesten seine Rockschöße in die Hand, ich fasste in Konrads Gürtel und Fritz, der zweitälteste machte den Schluss. „So Jungens,“ sagte der Vater, „nun festgehalten und tüchtig marschiert. Wenn einer loslässt oder fällt, brüllt ihr, damit wir keinen verlieren.“ Ich war der Kleinste und ging also in der Mitte. Ein paar Mal stolperte ich und ließ los. Sofort stand die Kolonne und brüllte. Etwas Angst hatte ich doch, es war unheimlich in dem finsteren Wald. Manchmal schlugen uns die Zweige ins Gesicht , aber ich nahm allen Mut zusammen um von den anderen nicht ausgelacht zu werden. Vorne war ja Vater und der war so groß und stark, unser Vertrauen war so felsenfest, es konnte nichts passieren. Ab und zu blieb er stehen und ließ uns auf die Stimmen des nächtlichen Waldes lauschen. Wir hörten viele Käuzchen und manchmal klang es ganz nahe bei uns, dass wir ordentliche zusammenschraken. Aber Vater veruhigte uns und erklärte uns ihr nächtliches Treiben.

Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie Vater sich in dem stockdunklen Wald kreuz und quer zurecht gefunden hat.

Spät in der Nacht kamen wir nach Hause. Mutter brachte uns zu Bett. Ich war todmüde, merkte von allem nichts mehr, aber in der Erinnerung lebt diese herrliche Wanderung fort.

   
         
         
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